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1. Untersuchungsausschuss der 6. Legislaturperoide am Sächs. Landtag legt Abschlussbericht NSU vor

Rede Lars Rohwers im Sächsischen Landtag zum Abschlussbericht des 1. Untersuchungsausschusses NSU vom 4. Juli 2019

Frau Präsidentin, meine sehr geehrte Damen & Herren im Hohen Haus,

am Tag Adolfs Hitlers Einmarsch in Österreich, am 13. März 1938, entschließt sich der Philosoph Karl Popper, ein Wiener mit jüdischen Wurzeln im neuseeländischen Exil, sein monumentales, zweibändiges Hauptwerk über Die offene Gesellschaft und ihre Feinde zu schreiben.

Es war seine Reaktion zu den Kriegsanstrengungen. Es war seine Möglichkeit, um gegen Hitler und den Nationalsozialismus, gegen Stalin und den Kommunismus zu argumentieren. Es ist für uns „im Heute“ eine Aufklärung darüber, wie ungemütlich und anstrengend demokratische Freiheit für eine Gesellschaft ist. Denn es ist ein ewiges Ringen, das nie endet.

„Die einzige rationale Einstellung zur Geschichte der Freiheit besteht in dem Eingeständnis, dass wir es sind, die für sie Verantwortung tragen, -in demselben Sinn, in dem wir für den Aufbau unseres Lebens verantwortlich sind; dass nur unser Gewissen unser Richter sein kann.“ (Karl Popper)

Nur in einem Rechtsstaat, der den Menschen Freiheit und zugleich Sicherheit gibt (mit Richtern, mit Polizei, mit einer Verfassung), können Menschen auch Gebrauch von ihrer Freiheit machen. Gegen Terror (egal welcher Art) muss mit aller Härte vorgegangen werden; vor allem mit der Macht der Argumente.

Der 1. Untersuchungsausschuss der 6. Legislaturperiode des Sächsischen Landtages hatte die Folgen freiheitseinschränkender, extremistischer und menschenverachtender Gesinnungen zum Inhalt. Er hatte den Auftrag, das Handeln der Staatsregierung und der ihr nachgeordneten Behörden im Zusammenhang mit der Entstehung, Entwicklung, Aufklärung und Verfolgung der neonazistischen Terrorgruppe NSU und ihres Unterstützerumfeldes auf etwaiges Fehlverhalten und mögliche Versäumnisse zu prüfen und zu bewerten.

70 Zeugen wurden im Laufe von 43 Sitzungen zwischen April 2015 und Juli 2019 befragt. 1.572 Aktenordner dokumentieren, wie umfangreich mit 51 Beweisanträgen Unterlagen zur Einsicht angefordert worden sind. Es ist ein überragender Aktenbestand, der im Verlauf des Untersuchungsauftrages zusammen getragen wurde. Auf 203 Seiten legen wir nun den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses dem Hohen Haus vor.

Dass es den Untersuchungsausschuss überhaupt gibt und das er nötig wurde, ist die Folge extremistischen Gedankenguts, welches die Freiheit aller einschränkt und ad absurdum führt.

Dass der Abschlussbericht in der Form nun tatsächlich vorliegt, verdanken wir nicht nur dem ursprünglichen Einsetzungsbeschluss des 1. UA, sondern auch dem entschiedenen Agieren des Ausschusssekretariats und des Juristischen Dienstes der Landtagsverwaltung, die die Wünsche und Anforderungen der Ausschussmitglieder nach Recht und Gesetz umgesetzt haben.

Ohne die Mitarbeit von Herrn Ottmar Breidling, der uns die - Sachsen - betreffenden Akten aus dem NSU-Prozess in München zur Einsicht und Bewertung zugänglich gemacht hat und dem umsichtigen Agieren von Herrn Professor Becker-Eberhard aus Leipzig bei der Erstellung des Berichtsteils hätten wir uns in so manchem Klein-Klein verloren.

Mein Dank geht auch an den Beauftragten der Staatsregierung und seinem Stellvertreter, die beide dafür gesorgt haben, dass wir alle angeforderten Akten erhalten haben und dass die zu vernehmenden Zeugen aus der Staatsverwaltung uns entsprechend unserer Zeitvorgaben zur Verfügung gestanden haben.

Wir verdanken es aber gerade dem offenen gemeinsamen Vorgehen der Abgeordneten in den verschiedenen Fraktionen (abseits des sonst üblichen Parteiengezänks) das wir nun diesen Abschlussbericht vorlegen können.

Mein besonderer Dank gilt hier den Obleuten der Fraktionen und meiner Stellvertreterin im Ausschussvorsitz, ohne unserem vertrauensvollen Austausch untereinander hätten wir so manche Situation nicht gut umschifft.

Das war parlamentarischer Stil, wie ich ihn mir mehr wünsche!

Ein kurzer Rückblick:

Seit November 2011 war klar, dass die Sicherheitsbehörden und die Verfassungsschutzämter besser aufgestellt werden müssen. Der rechtsextreme NSU beging über Jahre unbehelligt rassistisch motivierte Morde. An der Täterschaft des „Kern-Trios“ Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe bestehen keinerlei Zweifel.

Die Ausschussmitglieder sind nun - nach vier Jahren dauernder Prüfung - davon überzeugt, dass es keine nachweisbare Schuld sächsischer Behörden im Sinne des Untersuchungsausschusses und im Umgang mit dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ gab. Was es jedoch gab, war eine inkongruente Auswertung der vorliegenden Informationen aus dem NSU-Umfeld im Verfassungsschutz und eine fehlende Weitergabe an die Ermittlungsbehörden in Justiz und Polizei.

Wir Landtagsabgeordneten geben unser Versprechen, dass die Aufklärung über rechtsextremistischen Terror mit dem Ende des NSU-Ausschusses nicht abgeschlossen ist. Viele Spuren in der Neonazi-Szene sind noch nicht ausgeleuchtet.

Nach menschlichem Ermessen dürfen wir es nicht zulassen, dass erneut terroristische Netzwerke - gleich welcher Coleur – Angst und Schrecken, Mord und Totschlag in unsere freie Gesellschaft tragen.

Dass wir seit der Selbstenttarnung des NSU hier besser geworden sind, zeigt das schnelle Aufdecken durch die sächsischen Sicherheitsbehörden am Beispiel der rechtsextremistischen „Gruppe Freital“ und „Revolution Chemnitz“. Der Vorwurf lautete jeweils: Bildung einer terroristischen Vereinigung.
Ob es reicht, wissen wir nicht…
Nach letzten Meldungen vom März 2019 werden 497 (!) Neonazis deutschlandweit mit offenem Haftbefehl gesucht…
Wir können nur hoffen, dass die Strafverfolgungsbehörden alles tun, um dieser habhaft zu werden.

„Diese Bestrebungen der Sächsischen Sicherheitsbehörden nach konsequentem Ausbau der anlassbezogenen Vernetzung und Aufklärung werden ausdrücklich unterstützt.“

Wir können nur hoffen, dass diese untergetauchten Neonazis nicht schon wieder in einem rechtsextremistischen Untergrund sind…bleiben wir wachsam!

Unser Land ist mit seinem gesellschaftlichen und politischen Handeln in der Pflicht, die Menschen vor solchen Taten zu schützen.

Das schützt uns nicht vor der Einsicht, dass es Rechtsextremismus im ganzen Bundesgebiet gibt! Hartnäckig hält sich das Phänomen, selbigen zu verharmlosen. Von dem Narrativ „wir können es wagen“ oder „das wird man doch wohl noch mal sagen dürfen“ gilt es für die Politik, sich klar abzugrenzen!

Ziel sollte sein, „rechtsradikalem Gedankengut“ nicht die Hegemonie über den öffentlichen Raum zu überlassen.

Ziel sollte sein, permanent zu widersprechen

und die Zivilgesellschaft zu stärken!

Dabei müssen wir sehr sensibel sein, damit es nicht zu gesellschaftlichen Verwerfungen kommt.“ Das rät der Obmann des Innenausschusses und Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums Armin Schuster
(Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.12.2018).

Die Gefahr einer schleichenden Radikalisierung von Menschen ist angesichts von rechtspopulistischen Parteien in allen deutschen Parlamenten und permanenter hetzerischer Propaganda in den (sogenannten) sozialen Netzwerken deutlich größer als noch vor ein paar Jahren.

Horst Seehofer spricht im Falle der verabscheuungswürdigen Ermordung von Walter Lübcke vor drei Wochen von „einer neuer Qualität des Rechtsextremismus, der eine erhebliche und ernstzunehmende Gefahr für die freiheitliche Gesellschaft sei“.

Aus dem NSU-Prozess lernen wir, selbst in den Spiegel zu schauen! Unsere Lehre kann nur sein, nicht wegzuschauen, wenn Unrecht geschieht, sondern der Kultur der Entsolidarisierung entgegenzuwirken!

Wir alle, die wir heute hier anwesend sind, glauben an den Rechtsstaat, an die Demokratie. Doch diese Dinge sind nicht einfach da – wie die Naturgesetze.
Sie sind das Ergebnis menschlichen Wollens. Menschen/Bürger wollen einen verlässlichen Rechtsstaat. Doch der Rechtsstaat ist so wahnsinnig verletzlich. Unsere Menschenrechtsidee, unser Bild des Menschen, unser Verfassungsrecht ... sind jeden Tag bedroht. Wir lernen aus dem NSU-Prozess, die Erkenntnis, dass wir für unser freiheitliches Menschenbild jeden Tag verantwortlich sind und dass wir es jeden Tag neu zu verteidigen haben.

Staat, Polizei, Medien, - wir dürfen uns fragen: wie verhalten wir uns wenn rechtsnationaler Terror stattfindet? Sicherheitsbehörden können nur begrenzt wirken. Verbotsgesetze erweisen sich auch nur als begrenzt sinnvoll. Das Schüren fremdenfeindlicher Klischees setzt die parlamentarischen Ebenen unter Druck. Rechtsradikalen Ressentiments zu widersprechen und Flagge zu zeigen, sollte Stimmen bringen, statt Stimmen kosten!

Politiker tragen besondere Verantwortung, weil sie Vorbilder sind. - Im Guten wie im Negativen. Sie müssen ihre Worte besonders abwägen, vor allem bei Themen wie Migration und Asyl. Die Entwicklung eines Klimas, in dem Hass und Bereitschaft zur Militanz gedeihen, hängt wesentlich davon ab auf welche Weise Politik und Gesellschaft diskutieren. Dies gilt auch für die verbale Abwertung des Anderen. Streiten wir heftig, aber fair um unsere Standpunkte? Oder gleiten sie ab in Hetze?

Unsere Gesellschaft verändert sich ständig, sie erprobt sich jeden Tag auf´s Neue und korrigiert sich dabei immer wieder. Lebensstile, Meinungen, Überzeugungen, auch Religionen prallen zum Teil heftig aufeinander. Joachim Gauck hat uns dieser Tage daran erinnert, wie schwierig es ist Toleranz zu fördern, wo es eine Zumutung ist.

„… wie viel innere Überwindung es kostet, wenn wir scheinbar Unvereinbares miteinander vereinbaren sollen. Respekt ausgerechnet für jene Mitmenschen aufzubringen, deren Religion oder Meinung oder Lebensstil wir nicht teilen, teilweise sogar ausdrücklich falsch oder bedenklich finden und im ideologischen Disput bekämpfen möchten“…

Wir alle haben unsere Erfahrungen gesammelt. Wir wissen, dass Toleranz keine leichte, jedoch ganz wichtige Aufgabe ist. Toleranz ist so schwer, weil sie weder Gleichgültigkeit noch Akzeptanz bedeutet. In ihrem Namen sollten wir für uns das Recht geltend machen, dass sich jede Bewegung, die die Intoleranz predigt und rationale Diskussion ablehnt, außerhalb des Gesetzes steht. Die Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung gegenüber Andersdenkender sollten wir ebenso klar ablehnend behandeln, wie die Aufforderung zu Gewalt, Raub oder Mord.

Karl Popper schreibt in seinem späteren Werk des Paradoxon der Toleranz von 1944, dass es in einer offenen Gesellschaft keinen Anspruch darauf gibt, im Mittelpunkt zu stehen, versorgt zu werden und auch noch recht zu haben. Terrorismus ist diesem Gedanken folgend die ultimative Rechthaberei!

Zukünftig dürfen wir uns die zentrale Frage stellen, wie wir junge und erwachsene Menschen erreichen können, um Toleranz zu üben und Extremismus vorzubeugen?

Bildungsarbeit ist ein ganz wichtiger Bestandteil, um Kinder und Jugendliche auf ihre Rolle und ihr Leben in einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft vorzubereiten. Und Erwachsene? - Wahlstudien haben gezeigt, dass wir bei den Erweachsenen mit klassischer Bildungsarbeit nicht mehr ganz so viel erreichen. Bei ihnen wirkt das Prinzip der Freiwilligkeit viel stärker. In Sport- und Schützenvereinen, bei der freiwilligen Feuerwehr und auf der Straße kommt man mit ihnen am besten in den Austausch. Dort heißt die große AufgabeSpannungen und Kritik wahrzunehmen und auszuhalten – Demokratie vorzuleben und auszuhalten. Toleranz gegenüber Andersdenkenden wächst, wenn zivilgesellschaftliches Engagement gefördert wird. Aussteigerprogramme für die Szene bieten Lösungen an. Die Unterstützung der Arbeit von Verbänden und Vereinen in ländlichen oder strukturschwachen Gebieten schafft Nachhaltigkeit in allen Bereichen.

Das alles wird viel Mühe kosten, viel Geld, Kontinuität und eine klare politische Haltung! Doch das gesellschaftliche Engagement, die politische Bildung und die gelebte Nächstenliebe sind die Grundlagen unseres Erfolgs in der Demokratie!

Die Familien der NSU-Opfer haben so viel mitgemacht. Sie bringen seit Jahren all ihre Kraft auf, weiterzumachen. Ihnen gilt unser ganzes Mitgefühl! Ihre Kraft lässt uns couragiert die Augen offenhalten und verstärkt für den Opferschutz eintreten. Opferschutz in einer Zeit, in der Politiker, Bürgermeister und gesellschaftlich engagierte Menschen und ihre Familien weiterhin Drohungen erhalten, während die Täter für ihre Verbreitung von Angst nur geringe Konsequenzen zu fürchten scheinen.

Dazu sagt der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel: „Man muss Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten.“

Die Zivilgesellschaft ist also angesprochen, nicht nur die staatlichen Behörden. Deshalb stellen die Regierungsfraktionen in ihrer Stellungnahme zum Untersuchungsausschuss fest:

Wir „haben in den in dieser Legislatur beschlossenen Staatshaushalten verantwortungsvoll dafür Sorge getragen, dass im Freistaat Sachsen der „Starke Rechtsstaat“ zukünftig keine Worthülse bleibt. (…) Die Bekämpfung extremistischer Straftaten und die Auseinandersetzung mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist eine Daueraufgabe in einer demokratischen Gesellschaft.“

Lassen Sie mich zum Schluss eine kurze und sehr hoffnungsvolle Situation aus einem Verhandlungstag des Münchner NSU-Prozesses schildern:

Mascha M., eine junge Frau aus Köln (damals 18 Jahre alt), ist als Zeugin vorgeladen. Sie erlebt, wie die Bombe im Geschäft ihrer Eltern detoniert als sie versuchen, ein Postpaket zu öffnen. Sie selbst wurde bei dem Attentat schwer verletzt. Große Teile ihrer Haut verbrannten. Monate lang war sie zur Behandlung in Krankenhäusern, von dort aus machte sie ein Notabitur. Danach studiert sie Chemie und (!) Medizin. Sie arbeitet sich zurück ins Leben. Als Chirurgin rettet sie jeden Tag Leben.

Der Kontrast: Beate Zschäpe, welche mit Mascha M. im gleichen Gerichtssaal sitzt, hält es vielleicht schon für eine Lebensleistung mit einem deutschen Pass geboren worden zu sein.

Da wäre die Frage erlaubt: was hast DU für Deutschland, für deine Mitmenschen gemacht??

Die ausbleibende Antwort, die Leere der Antwort würde die Unzulänglichkeit und das absurde Menschenbild der Leute, die denken, dass bestimmte Menschen allein auf Grund ihrer Herkunft nicht zu Deutschland gehören, enttarnen.

Die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker sprach mir kürzlich aus dem Herzen als sie in einer Pressereaktion im Juni zum Mord Walter Lübckes formulierte: „Wir sollen wachsam sein, nicht ängstlich (…) Je stärker unsere Vielfalt angegriffen wird, desto mehr müssen wir sie verteidigen.“

Lassen Sie es mich mit meinen Worten sagen: Hass zerstört, Zuwendung baut auf und hilft dem Leben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!