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21. Mai 2022 - Debatte um assistierten Suizid

Debatte um assistierten Suizid im Bundestag

Diese Woche wurde die Debatte um assistoerten Suizid im Bundestag eröffnet

Ausgangssituation: In seinem Urteil vom 26.02.2020 hat das Bundesverfassungsgericht das strafrechtliche Verbot der geschäftsmäßigen Suizidassistenz für verfassungswidrig erklärt, denn „das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen“. „Das in § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung macht es Suizidwilligen faktisch unmöglich, die von ihnen gewählte, geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen.“ Nun hat Karlsruhe angeregt, noch 2022 eine neue gesetzliche Grundlage zu schaffen. Es kollidieren die Pflicht des Staates Leben zu schützen und die Autonomie Suizidwilliger.

Wenn man über Sterbehilfe spricht, wird oft auf verschiedene Abstufungen Bezug genommen. Deshalb im Folgenden eine kurze Auflistung der Begrifflichkeiten.

Aktive Sterbehilfe: Tötung auf Verlangen (bislang strafbar)

Passive Sterbehilfe: Verzicht auf Einleitung bzw. Fortsetzung lebensverlängernder, medizinischer Maßnahmen entsprechend dem Patientenwillen (nicht strafbar)

Indirekte Sterbehilfe: Darreichung medizinisch gebotener Mittel (z.B. Schmerzlinderung), die als unvermeidbare Folge eine lebensverkürzende Wirkung haben

Die weitere Ausgestaltung der rechtlichen Grundlagen für assistierten Suizid ist vor allem auch für Ärzte essentiell. Beihilfe zur Selbsttötung ist nicht strafbar, aber Ärzten droht z.B. der Verlust ihrer Zulassung. Es geht bei dem Thema also auch um Rechtssicherheit für die beteiligten Ärzte.

Sensible Themen benötigen intensiven und respektvollen Austausch

Zusammen mit dem EAK Sachsen habe ich das Thema bereits frühzeitig auf die Agenda gehoben und für unsere Mitglieder eine Diskussionsveranstaltung angeboten, um auch die christliche Perspektive in den Blick zu nehmen. Als Gäste geladen waren Anfang März 2022 Jochen Bohl (ehemaliger Landesbischof in Sachsen), Dr. Barbara Schubert (Chefärztin für Onkologie, Geriatrie und Palliativmedizin am St. Joseph-Stift, Dresden) und Klaus Kaden (ehemaliger Superintendent). An dieser Stelle möchte ich Sie noch einmal mit hineinnehmen in die unterschiedlichen Perspektiven, die auf dieser Veranstaltung ausgetauscht wurden:

Für die Schaffung einer straffreien Möglichkeit zu Inanspruchnahme von Sterbehilfe sprechen das Selbstbestimmungsrecht am Ende des Lebens und die Gefahr einer Kriminalisierung der Ärzte. Dagegen sprechen hingegen der Schutzauftrag des Grundgesetzes sowie der wachsende Druck auf Schwerkranke, Alte und Depressive. Humanistisch ließe sich argumentieren: Ohne Beihilfe würden Menschen sich auf „brutale, unsichere, angstauslösende Weise“ das Leben nehmen und teilweise andere Menschen dabei traumatisieren oder ins Ausland gehen müssen, um diese Entscheidung in die Tat umsetzen zu können. Was aber löst eine Liberalisierung aus?

Der ehemalige Landesbischof Sachsens Jochen Bohl eröffnete die Veranstaltung mit einem Impulsvortrag. In Deutschland machen Suizide etwa 1% der Todesfälle aus (ca. 9.000 p.a.), davon 75% Männer, davon besonders viele hochbetagte Männer. Statistisch gesehen hat die Zahl der Selbsttötungen gegenüber den 80er Jahren deutlich abgenommen, daher darf auch die Frage gestellt werden, ob es eine Neuregelung braucht. Die Diskussion der vergangenen Jahre könnte man zusammenfassen, dass sich 2015 die (lebens)bejahende Ansicht im Deutschen Bundestag durchgesetzt hat. Nun erweitert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts den Autonomiebegriff aber erheblich. Die staatliche Schutzpflicht tritt hier hinter die individuelle Autonomie deutlich zurück und es wird die Frage nach dem „warum“ aus den Augen verloren. Sämtliche Stellungnahmen der Kirchen zu diesem Thema wurden in den letzten Jahren in ökumenischer Einigkeit abgegeben. Aus kirchlicher Sicht hat Gottes JA immer Vorrang vor dem menschlichen NEIN. In einem besonderen Fokus stehen dabei natürlich die christlichen Einrichtungen, besonders die Caritas und Diakonie mit ihren vielen Pflegeheimen etc. Hier sollten Hospiz/Palliativversorgung als Alternativen zur Selbsttötung selbstverständlich weiterhin angeboten und vor allem aber zusätzlich ausgebaut werden. Suizid darf nicht einfach eine Option unter vielen sein, das Ende des Lebens zu betrachten.

Aus einer anderen Perspektive berichtete Frau Dr. med. Barbara Schubert, Chefärztin für Onkologie, Geriatrie und Palliativmedizin am St. Joseph-Stift Dresden. Seit 2012 ist sie in der Altersmedizin tätig und möchte die Betrachtung auf die Betroffenen und die Ärzte/Helfer lenken. Sie stellt immer wieder fest, dass der Mensch dazu neigt, die Gedanken an das Ende des Lebens wegzuschieben, erst darüber nachzudenken, wenn es soweit ist. Es gibt dann zwei starke Reaktionen: weglaufen wollen vom oder hinlaufen wollen zum Ende. Sie zitiert einen Patienten, der sagte: „Das Lebensende bedeutet, sich in die Hände von jemand anderen zu begeben.“ Diese Einschätzung geht gänzlich entgegen der Autonomievorstellung, die das Bundesverfassungsgericht ansetzt. Schubert beurteilt den Satz „Ich will nicht mehr leben“ als einen Hilfeschrei, bei dem es in der Regel gilt herauszufinden, was dahintersteckt, anstatt unreflektiert Suizidassistenz „in Gang zu setzen“. Ärzte und Pfleger auf der Palliativstation nehmen oft eine Sprachlosigkeit zwischen Patienten und Angehörigen wahr, weil die kranke Person sich nicht traut, den Sterbewunsch zu äußern, um das Gegenüber nicht zu verletzen. Assistierter Suizid betrifft aber nicht nur die Tötungswilligen, sondern auch beteiligte Helfer und/oder Ärzte: Der Deutsche Ärztetag lässt klare Richtlinien vermissen. Es wird immer mehr jeder einzelne Arzt auf seine eigene ethische Bildung/sein Gewissen zurückgeworfen, es gibt immer weniger berufsethische Vorgaben bzw. Positionierungen. Das setzt Ärzte- und Pflegeschaft unter enormen individuellen Druck. Ist die Idee von der Autonomie gemäß BVerfG vielleicht ein Trugbild? Ist der Mensch nicht von Lebensanfang bis Lebensende von so vielen Menschen, Umfeld und anderen Faktoren beeinflusst?

Klaus Kaden, ehemaliger Superintendent stellt in Frage, ob es unbedingt eine (straf)gesetzliche Regelung braucht. Wie viele Optionen müsste das Gesetz offen lassen, damit nicht wieder geklagt wird? Müsste es dann nicht auch eine gesetzliche Kassenleistung sein? Die „Gesellschaft für humanes Sterben“ will den unbeeinflussten Willen des Betroffenen feststellen. Aber ist der Mensch nicht, wie schon Frau Schubert sagt, ein abhängiges, soziales Wesen? Das könne man nicht einfach ändern, so ist der Mensch geschaffen. Bezugnehmend auf das schwierige Spannungsfeld der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Diakonie und Caritas weist Kaden auf eine Orientierungsrichtlinie aus der Diakonie hin, die aktuell in der Endredaktion sei. Der Verband möchte aber zuerst einen fundierten Aufschlag zur Suizidprävention machen. Diakonie-Präsident Ullrich Lilie führt dabei die Selbstverantwortung aus der reformatorischen Lehre ins Feld. Es gehe darum, mehr "Einzelfallgerechtigkeit" einzuüben, sagte er. Es gehe nicht "holzschnittartig" um Lebensschutz auf der einen und Selbstbestimmung auf der anderen Seite, betonte er: "Wir brauchen eine Kultur des genauen Hinsehens."

Im Anschluss an die drei Impulse tauschte sich das anwesende Publikum untereinander aus. Angesprochen wurde u. a. der Stellenwert des Lebens in unserer Gesellschaft und die Problematik vom Sterbewunsch junger Menschen. Schubert geht davon aus, dass der Mensch grundsätzlich ein lebensbejahendes Wesen ist, dass also etwas „nicht stimme“, wenn man sich in einer ausweglosen Situation sieht und diese Option erwägt.

Bohl weist außerdem darauf hin, dass die Zahl der Hoch- und Höchstbetagten in unserer Gesellschaft in den nächsten Jahren weiter steigt. Es stellte sich also auch die Frage der Humanität, da man als Gebrechlicher ein „Problem“ darstelle. Auch Einsamkeit müsste hier stärker thematisiert werden.

Im Zusammenhang mit Corona wird der Eindruck geäußert, dass Suizidfälle gerade in den letzten zwei Jahren zugenommen haben bzw. durch Panik in der Quarantäne, die Gefahr und die Verzweiflung zugenommen haben.

Aktuell liegen drei verschiedene Gesetzesentwürfe von Abgeordneten im Deutschen Bundestag vor. Ich befürworte eine ähnliche Lösung für den Assistierten Suizid wie beim Thema Abtreibung: Hier gilt (Stand heute, Mai 2022) eine verpflichtende Schwangerschaftskonfliktberatung und ein Verbot von Werbung für Abtreibung. Die Übertragung dieser Regelungen auf das Lebensende wird von einer Gruppe um die Abgeordneten Castelucci und Heveling verfolgt, denen ich mich gerne angeschlossen habe.

Der Deutsche Ethikrat hat für den Herbst 2022 seine ausführliche Stellungnahme zum Thema angekündigt.

Chronologie der öffentlichen Debatte

2012erster Versuch für umfassende gesetzliche Regelung scheitert
2014emotionale Debatte im Bundestag (November)
2015Bundestag stellt geschäftsmäßige Hilfe zum Suizid unter Strafe (Verboten ist demnach eine „auf Wiederholung angelegte Hilfe bei der Selbsttötung“)
2020Urteil BVerfG „das allg. Persönlichkeitsrecht nach Art 2 i.V.m. Art. 1 GG umfasst (…) ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ auch unter Zuhilfenahme von Dritten => bedeutet Regelung von 2015 wurde einkassiert
2021Orientierungsdebatte im Deutschen Bundestag im April
2022Neuregelung wird bis Ende des Jahres angestrebt

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